Alle für einen, einer für alle

Titel

„Puuh!“, ächzt Moritz, als er die schwere Ein­kaufstüte vor Frau Hermanns Wohnungstür abstellt. Er will gerade klingeln, da hört er von innen, dass Frau Hermann telefoniert. „Das ist ja seltsam“, denkt Moritz, „ich habe Frau Hermann noch nie am Telefon erlebt.“ Und Moritz kennt Frau Hermann schon, seit er vor vier Jahren mit seinen Eltern in die Schillerstraße gezogen ist. Damals hatte sie ihnen einen selbstgebackenen Kuchen vor­beigebracht und seitdem geht Moritz immer wieder mal zu ihr, wenn seine Eltern nicht zu Hause sind – oder wenn er Lust auf ein Stück Schokolade hat.

Frau Hermann ist schon über achtzig und bekommt nie Besuch. Sie hat Moritz einmal erzählt, dass sie einen Sohn hat, der in einer anderen Stadt wohnt. „Der ist schon erwachsen und arbeitet viel“, hat sie gesagt. Aber Moritz wundert sich trotzdem, dass der Sohn seine Mutter nie besucht, denn Frau Her­mann wirkt immer etwas einsam und trau­rig. Seit einem Jahr kann sie auch nicht mehr gut laufen und kommt schlecht die Treppe rauf. Deshalb hat sie Moritz gefragt, ob er nicht ab und zu für sie im Laden an der Ecke einkaufen gehen könnte. Seitdem trägt Mo­ritz einmal in der Woche eine schwere Tüte in den 3. Stock hinauf.

Darin befinden sich all die Dinge, die Frau Hermann ihm aufgeschrieben hat. Dafür be­kommt Moritz jedes Mal fünf Euro. Mama sagt zwar, dass Frau Hermann ihm nicht so viel geben solle, aber die alte Dame besteht darauf. Und Moritz freut sich natürlich. So hat er schneller das Geld für das coole BMX-Rad zusammen, das er unbe­dingt haben möchte.

 

Seltsamer Auftritt eines Enkels

Neugierig belauscht Moritz das Telefonat hinter der Wohnungstür. „Das kann doch gar nicht wahr sein! Ich wusste ja gar nicht, dass Thomas einen Sohn hat! Aber ich habe ihn ja auch schon seit 20 Jahren nicht mehr gesehen. Ja also, das ist aber schön, dass du jetzt an­rufst, ich freue mich ja so, von meinem Enkel zu hören … Aber gerne, komm doch morgen Abend zu Besuch … Also tschüss, bis dann!“ Moritz hört ein Klacken, Frau Hermann hat den Hörer aufgelegt. Jetzt erst klingelt er. Als Frau Hermann die Tür aufmacht, platzt Mo­ritz aufgeregt in die Wohnung hinein. „Sie haben einen Enkel?“, fragt er. „Ja, stell dir vor“, lacht ihn Frau Hermann an, „er heißt Jan und kommt mich gleich morgen Abend besuchen! Ist das nicht wundervoll? Wo ich mir doch immer einen Enkel gewünscht habe!“

Zwei Tage später auf dem Weg zum Fußball­training trifft Moritz Frau Hermann im Trep­penhaus. „War Ihr Enkel denn jetzt da?“, fragt Moritz. „Ja, gestern. Er sieht meinem Sohn wirklich ähnlich. Und er studiert. Er will In­genieur werden. Er hat mir sogar seine Zeug­nisse gezeigt – ausschließlich gute Noten. Nur das Geld zum Studieren fehlt ihm, es ist ja alles so teuer heute! Aber da werde ich ihm natürlich helfen. Ich habe heute schon Geld von der Bank geholt. Das gebe ich ihm gleich heute Abend.“

Zum Fußballtraining muss Moritz eine Station mit der U-Bahn fahren. Er ist immer froh, wenn die U-Bahn nicht gleich kommt und er noch ein paar Comics und Nachrichten auf dem Bildschirm am Bahngleis anschauen kann. Aber heute bleibt er vor einem Plakat der Polizei stehen: „Betrug im Fokus: der En­keltrick“ steht darauf. Darauf ist eine Frau mit weißen Haaren abgebildet, die einem viel jüngeren Mann Geldscheine in die Hand drückt. „Passen Sie auf, wenn sich bei Ihnen ein Enkel meldet, von dem Sie bisher nichts wussten, und er Geld von Ihnen möchte!“, schreibt die Polizei. Moritz stutzt. Er denkt an Frau Hermann und ihren Enkel – das ist ja genau die gleiche Geschichte! ln Moritz’ Kopf schrillen die Alarmglocken.

„Der Enkel von Frau Hermann ist vielleicht auch nicht echt, sondern bloß ein Betrüger! Er will nur das Geld und dann verduften!“, denkt Moritz. „Ich muss Frau Hermann warnen!“ Und schon rast Moritz zurück nach Hause. Als er im 3. Stock ankommt, steht vor der Tür von Frau Hermann ein junger Mann mit ei­nem Strauß Blumen in der Hand und klingelt gerade. „Nein, jetzt kommt der Enkel schon! Ich bin zu spät!“, denkt Moritz und geht un­auffällig an dem Mann vorbei, weiter die Treppe hinauf. „Was soll ich bloß tun?“, fragt er sich, als er im nächsten Stockwerk stehen bleibt. Wenn er jetzt nach unten geht und bei Frau Hermann klingelt, wird die ihm doch nie im Leben glauben! Er schließt seine Wohnungstür auf. ln seinem Zimmer fällt sein Blick auf ein Foto vom letzten Hallenturnier. Dort hatte seine Mannschaft den Pokal gewonnen. Zusammen sind sie einfach die Besten! Bestimmt wundern sich jetzt beim Training alle, wo er bleibt…

 

illu Enkel

 

Starker Auftritt der elf Freunde

Da kommt ihm die rettende Idee: Sie werden den falschen Enkel verfolgen, wenn er das Haus verlässt, und dann die Polizei verstän­digen. ln diesem Moment klingelt sein Han­dy. Es ist sein Mannschaftskapitän Dennis: „Wo bleibst du, Mann, wir trainieren schon seit einer halben Stunde! Und am Samstag ist das entscheidende Spiel gegen den FC Mies­bach!“ „Ich weiß“, sagt Moritz „aber ich sitze hier fest. Meine alte Nachbarin wird gerade von einem falschen Enkel betrogen.“ Schnell erzählt er Dennis die Geschichte. „Cool!“, sagt Dennis, „das ist ja ein echter Krimi! Ich komme mit der ganzen Mannschaft und dann schnappen wir uns den Kerl!“

Eine Viertelstunde später sind alle im Hin­terhof versammelt. „Andi, Tom und Gustav, ihr versteckt euch hinter der Litfasssäule auf der anderen Straßenseite. Tobi, Korbi und David, ihr geht zur nächsten Straßenecke links, falls er nach dort verschwinden will. Und Maxi, Mohammed und Jakob, ihr stellt euch an die U-Bahn-Rolltreppe“, teilt Moritz seine Freunde ein.“ Dennis und ich, wir ver­stecken uns im Treppenhaus. Wenn der En­kel das Haus verlässt, pfeifen wir und dann bleiben wir ihm auf den Fersen – aber alles gaaanz unauffällig! Wenn wir wissen, wo er wohnt, rufen wir die Polizei. Alle für einen, einer für alle – an die Arbeit, Jungs!“

Alle rennen zu ihren Posten. Als der falsche Enkel mit dem Geld von Frau Hermann in der Tasche das Haus verlässt, ertönt ein Pfiff. Er sieht sich verwundert um, entdeckt aber nur drei Jungen, die auf die Plakate an einer Litfasssäule gucken. Zügig geht er die Stra­ße hinunter. Was er nicht bemerkt, sind elf Kinder, die ihm unauffällig folgen. Immer wieder verstecken sie sich hinter Bäumen und Straßenecken, bleiben an Zeitungskäs­ten und vor Schaufenstern stehen. Dennis hat sein Skateboard dabei und tut ab und zu so, als ob er seinem Freund Moritz ein paar Skater-Tricks zeigt. Plötzlich verschwindet der Mann in einer Gasse. Als die Freunde dort ankommen, sehen sie niemand mehr. „Mist, der hat uns abgehängt!“, flucht Korbi. Schnell rennen sie weiter und entdecken dann eine Hofeinfahrt. „Stopp“, sagt Moritz, „bestimmt ist er dort hineingegangen.“ Vorsichtig lugen sie um die Ecke in den Hof. Dort sehen sie zwei Männer. Einer davon ist der falsche Enkel, den anderen kennen sie nicht. Sie lauschen.

 

„Gute Arbeit, Kumpel“, sagt der fremde Mann. „Damit gehört der Ferrari so gut wie uns!“

Die Elf haben genug gehört! Nach einer Weile verschwinden die Männer in einem der Hauseingänge und kurz darauf sieht Moritz sie hinter einem Fenster im Erdgeschoss.

Schnell zieht Jakob sein Handy aus der Tasche:…110… „Hallo, hier spricht Jakob Schneider, wir haben gerade einen Mann erwischt, der der Nachbarin meines Freundes viel Geld abgenommen hat… ja, natürlich, der Enkeltrick… kommen Sie, wir sind in der Littinggasse, Ecke Domstraße… ja klar, wir warten auf Sie!“ Kurze Zeit später trifft Kommissar Plattner mit zwei Polizeibeamten bei den Jungs ein. Im Schnelldurchgang erzählt Moritz, die ganze Geschichte und was sie beobachtet haben. „Und ihr habt sie wirklich hinter dem Fenster im Erdgeschoss gesehen?“, fragt der Kommissar. „Dann nehme ich mir die Männer doch mal vor! Jungs, Ihr wartet hier mit meinen Kollegen hinter der Mauer“.

Als Kommissar Plattner an der Erdgeschosswohnung klingelt, geschieht zunächst gar nichts. Er klingelt noch einmal, dann klopft er laut an die Tür und ruft „Polizei! Öffnen Sie!“

Zur gleichen Zeit beobachten die elf Freunde. wie die zwei Männer aus einem Fenster der Erdgeschosswohnung springen und zur Hofeinfahrt rennen. Schnell schiebt Ihnen Tobi eine leere Mülltonne in den Weg, über die einer der beiden stürzt und gleich von den Polizisten festgehalten wird. Der andere, der falsche Enkel, entkommt in die Gasse in Richtung Rosenstraße. Alle Kinder sind ihm dicht auf den Fersen. „Er will in den Audi da vorne!“, schreit Mohammed. In diesem Moment nimmt Dennis sein Skateboard und lässt es auf den Mann zubrettern. Der stolpert darüber und fällt der Länge nach hin. Bevor er wieder aufstehen kann, hält Kommissar Plattner den Mann fest.

„Super Jungs, die Typen kennen wir schon. Sie haben schon vielen alten Leuten in anderen Städten Geld mit dem Enkel-Trick abgenommen und werden dringend gesucht.“

Nachdem die Männer im Streifenwagen sitzen und zur Polizeistation fahren, begleiten Moritz und seine Freunde Kommissar Plattner zu Frau Hermann. Die ist entsetzt als sie hört, dass sie auf den Enkel-Trick hereingefallen ist. Aber natürlich ist sie auch sehr froh, dass sie ihr gespartes Geld nun wiederbekommt.

Noch an diesem Tag überreicht Kommissar Plattner den elf Fußballfreunden die Belohnung von 500 Euro. Davon können sie endlich ein neues Fußballtor kaufen. Am nächsten Tag sitzen sie in der Eisdiele und essen an ihren großen Schoko-Sahne-Eisbechern, für die das restliche Geld noch gut gereicht hat.

 

Und Moritz? Der bekommt von der glücklichen Frau Herrmann noch 100 Euro extra.

Jetzt hat er endlich genug Geld für sein BMX!

 

Von Leo Jehle, 9 Jahre

 

Aufruf

 

 

Foto sxc_Sava

 

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