Die Gebrauchsanweisung

Die Gebrauchsanweisung

von Josephine Margarete Bauer

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Annegret war hin- und her gerissen. Gestern hatte sie vom Krimiwettbewerb erfahren und sie hatte sofort gewusst, das war genau was sie wollte. Aber was sollte sie bloß schreiben? Jetzt saß sie vor ihrem Laptop und alle Ideen waren wie weggeblasen. Da fing sie an, wie jeden Tag, in ihr Online-Tagebuch zu schreiben. Vielleicht konnte ihr ja ein anderer User ein paar Tipps geben? Hatte sie nicht erst neulich von diesem Dürer-Gemälde in der Zeitung gelesen, das plötzlich alle haben wollten?
„Selbstbildnis im Pelzrock“, genau. Und so fing sie an, unter „www.mein-online-tagebuch.de“ ihre Gedanken aufzuschreiben: am 16. Februar um 17.10 Uhr verließ die Cafeteria-Mitarbeiterin Resi die Alte Pinakothek durch den Fahrradkeller, genau wie jeden Tag. Nur eines war heute anders. Sie schob ihr Rad heraus, schwang sich drauf und radelte los. Bevor die schwere Tür ins Schloss fiel, schlüpfte ER durch. Sie hatte es nicht bemerkt. ER war nun im Fahrradkeller. Was ER noch wusste war, dass neben dem Fahrradkeller der Elektroraum lag, und dass um 20 Uhr der Schichtwechsel der Wachmannschaft war. ER brauchte also nur bis 19.58 Uhr zu warten, in den Elektroraum zu gehen, das Kabel für die Alarmanlage des Dürers zu ziehen und zu hoffen, dass das rote Blinklicht in der Schaltzentrale für fünf Minuten keinem auffiel. So lange dauerte es üblicherweise, bis die Wachmänner der Nachmittagsschicht ihren Kram weggepackt hatten und sich gebührend laut von den Männern der Nachtschicht verabschiedet hatten. Diese fünf Minuten reichten IHM, unbemerkt durch das Bild der Überwachungskamera zu huschen, das „Selbstbildnis im Pelzrock“ mitzunehmen und durch den Fahrradkeller wieder zu verschwinden, aber nicht ohne ein schönes neues Fahrrad.
Als die Wachmänner der Nachtschicht ihre Brotdosen verstaut, ihre Thermoskannen mit ganz viel Kaffee für die Nacht ausgepackt und die Jacken über die Stuhllehnen geschwungen hatten, war es 20.04 Uhr, und ER war schon an der nächsten Fahrradampel. Da war es IHM egal, dass das rote Blinklicht bemerkt wurde. Der Kaffee würde heute Nacht kalt werden.

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Mittlerweile war Annegret fast eingeschlafen und dabei war morgen Schultag: der 10. Februar. Das Telefon klingelte penetrant. Konrad Jägermeister drehte sich auf die andere Seite, aber das Klingeln hörte nicht auf. In seinem Kopf schien das Geräusch beständig anzuschwellen. Er blinzelte mit einem Auge in Richtung Radiowecker: es war 22.47 Uhr. Es musste schon was verdammt Wichtiges sein, um ihn eine halbe Stunde nachdem er ins Bett gegangen war, wieder herauszuklingeln. Er nahm den Hörer ab.
Zehn Minuten später war er wieder vollständig angezogen und raste in seinem Dienstwagen in Richtung Alte Pinakothek. Die Kollegen von der Spurensicherung waren bereits vor Ort und hatten ganze Arbeit geleistet. Der dreiste Dieb hatte es wohl gezielt auf den Dürer abgesehen. Seine Nacht würde Kommissar Jägermeister nun damit verbringen, die Videoaufzeichnungen des Museums zu sichten, um die Wege des Einbrechers zu rekonstruieren. Ade Vierjahreszeitendaunenkassettenbettdecke.
Der Morgen des 17.Februar war grau und wolkenverhangen. Annegret stapfte missmutig durch die Schneereste zur Schule. Heute würde es Zwischenzeugnisse geben. Aber noch Schlimmer: sie hatte immer noch nicht ihren Krimi für den Wettbewerb geschrieben. Plötzlich blieb sie wie angewurzelt stehen. Im Zeitungskasten an der Ecke hing die neueste Schlagzeile: „Selbstbildnis im Pelzrock von Dürer aus der Alten Pinakothek gestohlen! Täter flieht durch den Fahrradkeller!“

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Kommissar Konrad Jägermeister saß vor seinem Computer und war ratlos. Er war hundemüde. Seit fast 12 Stunden zerbrach er sich den Kopf, wie er den Kunstdieb fassen sollte. Auf den Überwachungskameras war er nur schemenhaft zu erkennen und ansonsten hatte er praktisch keine Spuren hinterlassen. Aus einer totalen Ratlosigkeit heraus, googelte Konrad Jägermeister die Begriffe „Pinakothek, Dürer, Pelzrock, Fahrradkeller“, und landete einen Treffer. Er öffnete den Link und das Blut gefror ihm in den Adern. In seinem Kopf pochte es. Der Dieb war sich seiner Sache so sicher, dass er seinen dreisten Kunstraub sogar im Internet angekündigt hatte! Na warte, Bürschchen, dich
krieg ich auch noch, dachte sich Konrad Jägermeister, während er zum Telefonhörer griff. Er wählte die Nummer seiner Kollegen der Internetfahndung. „Hallo Kollegen, ich schicke Euch einen Link per e-mail. Könnt ihr mir die URL rausfinden und sagen, wo ich den zugehörigen Computer finde? Es geht um den Kunstraub aus der Pinakothek.“ Wenn der Kerl schlau genug war, hat er sich von einem öffentlichen Rechner aus eingeloggt. Wenn er nicht schlau genug war, würde er, Kommissar Konrad Jägermeister, den spektakulären Kunstraub innerhalb der nächsten Stunden aufgeklärt haben. Er sah sich vor seinem geistigen Auge vor dem Ministerpräsidenten stehen und sich für den Orden bedanken.
„Gorweilerweg 100a“. Das war die knappe und präzise Antwort der Internetfahnder gewesen. Jägermeister war auf dem Weg dorthin. Das Sondereinsatzkommando hatte bereits mit 120 bewaffneten Kollegen das kleine Einfamilienhaus umstellt. Alles schien so ruhig. Aber so war es doch immer: das Verbrechen grassiert da, wo man es nicht vermutet. Sollte er das Haus stürmen lassen?

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Während er noch in Gedanken das Für und Wider abwägte, öffnete sich quietschend das Gartentürchen und Annegret stand vor ihm. „Hallo“ sagte sie, „kann ich Ihnen helfen?“ Kommissar Konrad Jägermeister war baff. Mit allen Eventualitäten hatte er gerechnet, aber nicht mit einem Kind. Er brauchte ein paar Sekunden bis er sich wieder gefangen hatte. „Sind deine Eltern zu Hause?“ Was für eine blöde Frage, aber ihm fiel sonst nichts ein. „Nein“. Annegret überlegte. Natürlich wusste sie, dass sie keinem Fremden die Tür öffnen durfte, wenn Mama nicht zu Hause war. Natürlich wusste auch Konrad Jägermeister, dass das Mädchen niemanden hinein lassen durfte, wenn die Eltern nicht da waren. Inzwischen war er von einer Erstürmung des Hauses abgerückt. So wollte er die Diretissima versuchen. „Kennst Du Albrecht Dürer?“ Annegret bekam weiche Knie, ihr wurde schummrig vor Augen. Sie war schon immer schlecht im Schummeln gewesen. Sie hatte es noch nicht einmal geschafft, die Tüte Gummibärchen geheim zu halten, die sie aus der Speisekammer gemopst hatte. Mama hatte es am nächsten Tag gemerkt. „Sie meinen das Selbstbildnis im Pelzrock? Äehm, ja.“ Schweigen. „Sind sie….?“ „Von der Polizei, genau.“ vervollständigte Kommissar Jägermeister.
„Und ich würde jetzt gerne von Dir wissen, wo das Bild ist.“ Annegret brach in Tränen aus, dicke Bäche flossen ihr über die Wangen. Jetzt war alles aus, der Polizist würde sie verhaften und ins Gefängnis stecken. Sie hockte sich auf die Stufe und der Kommissar setzte sich zu ihr. Sie fing zu erzählen an, erzählte von dem Krimiwettbewerb, dem Online-Tagebuch und davon, dass jemand erst „ihre“ Idee geklaut hatte und dann das Bild. Wo das Bild jetzt sei, wisse sie auch nicht, und ob sie den Eumel, ihren Teddybär, mit ins Gefängnis nehmen dürfe. Der Kommissar war erst sprach- und dann wieder mal ratlos. Er kratzte sich am Kopf. Und in eben diesem Kopf nistete sich eine Idee ein…..
„Liebe User, ich habe eine Idee, wie ich meinen Krimi für den Wettbewerb fortsetzen könnte. Bitte schreibt mir, ob ihr das gut genug findet.“ Annegret tippte schwitzend in ihr Online-Tagebuch.

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Kommissar Jägermeister saß grinsend hinter ihr und sah ihr über die Schulter. Ganz schön gewitzt für eine Drittklässlerin, dachte er bei sich. „Am 18. Februar, gegen 17.00 Uhr, fuhr ER mit seinem neuen Fahrrad die Arnulfstrasse entlang und bog zum Hauptbahnhof ein. Seltsamerweise ging IHM gerade durch den Kopf, dass das schöne Rad bestimmt geklaut wird, wenn ER es unversperrt vor dem Bahnhof abstellt. Aber was solls, ER hatte Wichtigeres vor. Das Schliessfach mit der Nummer 9417 lag hinten links in der mittleren Reihe. So konnte keine Kamera und auch sonst niemand in das Fach sehen, wenn ER die geöffnete Tür mit seinem Rücken verdeckte. Es war gerade Berufsverkehr und viele Leute waren unterwegs, aber keiner beachtete IHN, jeder schien mit sich selbst beschäftigt. C3PO war die Zahlenkombination, und sie funktionierte. Alte Schinken sollte man ja eigentlich nicht zusammenrollen wie eine Tapete, aber IHM war das herzlich egal. ER tauschte die grüne Sporttasche gegen seinen alten Rucksack aus. Zu Hause würde ER in Ruhe nachzählen, ob es tatsächlich 15 Millionen Euro waren. Das neue Rad war noch da und ER nahm sich fest vor, von dem Geld ein Fahrradschloss zu kaufen.“ Annegret sah den Kommissar an und er nickte. Dann drückte sie auf den Button „hochladen“.
Am 18. Februar hatten sich schon weit vor 17.00 Uhr diverse Polizisten im Hauptbahnhof platziert und die grüne Sporttasche war im Schliessfach Nummer 9417 eingeschlossen. Diese enthielt allerdings keine 15 Millionen Euro, sondern 97,50 Euro Spielgeld aus Annegrets ausrangiertem Kaufladen und ein paar alte „Süddeutsche Zeitungen“. Jägermeister hielt sich unauffällig am Zeitungskiosk neben der Schliessfachhalle auf. Er begann langsam, die „Quietsch-Bunte“ und „Das güldene Blatt“ nervig zu finden, als er um 17.03 Uhr über seinen Knopf im Ohr die Nachricht bekam, dass sich jemand am Schliessfach 9417 zu schaffen machte. Jetzt galts. Die Kollegen vom Sondereinsatzkommando hatten bereits die Eingänge verstellt. Jägermeister trat, die Hand an seiner Waffe, von hinten an IHN heran. „Hände hoch!“ rief er „Nicht umdrehen!“ Die Sporttasche fiel zu Boden. Der Kommissar ließ die Handschellen klicken, dann drehte er die Person um und staunte nicht schlecht. „Hallo Herr Finanzminister, klauten Sie den Dürer für die Nürnberger, oder um die Staatsfinanzen zu subventionieren?“

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Am Nachmittag des 27. März stand Annegret zitternd vor Aufregung im Rathaus und alle applaudierten. Selten war sich die Jury so einig gewesen, wem sie den ersten Preis des
Krimiwettbewerbs überreichen wollten. Am lautesten klatschte Kommissar Konrad Jägermeister, der als Annegrets persönlicher Ehrengast geladen war. Nachdem der Bürgermeister, die Jury und die anderen Autoren gratuliert hatten, war Jägermeister an der Reihe: „Annegret, ich hoffe, Du magst mich nächste Woche auch als Ehrengast begleiten, wenn ich vom Ministerpräsidenten meinen Orden überreicht bekomme!“

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